von Gerald Enzinger
Jo Ramirez hat die besten Jahre der Formel 1 aus dem Epizentrum des Geschehens erlebt.
Am Weg von Mexico City ins Ennstal geriet er in die Wirren des Prost-Senna-Konfliktes, er arbeitete mit und für Tyrrell, Stewart, Fittipaldi, Dennis. Dabei hatte alles mit einem Empfehlungsschreiben von Juan Manuel Fangio begonnen.
Es ist eine total, total verrückte Welt, in der Jo Ramirez, geboren 1942 in einem Vorort von Mexico City, sein Leben verbracht hat. Dutzende, vielleicht Hunderte Millionen von Fans am ganzen Planeten lechzen nach Geschichten aus den besten, aufregendsten, gefährlichsten Jahren der Formel 1, er aber war mittendrin, wenn Geschichte passierte. Als Arbeitskollege im ikonischen Stallkrieg Prost vs. Senna, als Freund beim Aufstieg der Gebrüder Rodriguez. Er war bei Tyrrell, als Triumph & Tragödie über das kleine Weltmeisterteam hereinbrachen. Seinen größten Erfolg aber, neben all den Auszeichnungen als „Legende“ und als „ein Architekt der Formel 1“ übermittelte ihn niemand Geringerer als Bernie Ecclestone mit einer einzigen Frage: „Wie kannst man so lange in diesem Zirkus sein – und keine Feinde haben?“
Vielleicht weil Jo Ramirez zwar ein Wirbelwind ist, aber in sich ruht. Die Position des Teammanagers, die er in den letzten beiden Jahrzehnten seiner Laufbahn bei McLaren innehatte, ist wie geschaffen für einen Mann, der im Fegefeuer der Eitelkeiten und in einem Hort der Hysterie ebenso cool wie auch bescheiden bleibt. Einer der wenigen, die hier in diesem Mikrokosmos des Wahnsinns aufregend nah dran war und doch gesund distanziert blieb. Und der auch heute, mit 80plus, mehr Benzin als Blut im Body zu haben scheint, und der sich immer noch wochenlang vorfreuen kann, wenn er von seinem Domizil nahe Malaga zu einem MotoGP-Rennen anreist, oder wenn er mit der Ennstal Classic etwa im Porsche 912 durch das letzte Paradies fährt. Dort, wo er seine Lebensliebe, eine Wienerin, einst kennengelernt hat.

Nach all den Jahren des gefragt Werdens und des gefragt seins, sagt er immer noch „Danke“ für das Interesse und erzählt er aus seinem Leben – vieles, aber nicht alles. Denn ein Mann, der dank seiner Nähe zu den Legenden oft zu viel wusste, kann gekonnt auf der engen Schnur zwischen Vertrauen und Vermitteln balancieren.
Dabei liest sich sein Leben wie ein Abenteuerroman der alten (also: guten) Schule. Wie er als 20-jähriger Technik-Student gegen den Willen seines Vaters die Uni schmiss und – gegen den Willen des Vaters und mangels Geld – sich mit einem von einem Freund in einer Regierungsbehörde organisierten Ticket nach New York durchschlug, und dann mit einem legendären Dampfer, der Queen Elizabeth, nach Europa kam – den Kontinent seiner Sehnsucht.
Denn dort war sein Landsmann und Freund aus gemeinsamen Kart-Zeiten, Ricardo Rodriguez, als Ferrari-Pilot gerade dabei, die Welt zu erobern.
Von England aus reiste Jo direkt nach Sizilien, wo ihn Ricardo am Start der Targa Florio Mauro Forghieri vorstellte, der ihm tatsächlich einen Job im Team anbot, beeindruckt vom Engagement von Ramirez und von dessen Anreise. „Wir wurden Freunde fürs Leben“, sagt Jo, und er denkt an den Zauber des Anfangs: „Ich habe jeden Shit-Job und den Kaffee gemacht, aber ich war glücklich und ich kam den Autos jeden Tag näher.“
Doch das Glück hatte im Rennsport in jenen Jahren oft nur die Halbwertszeit von wenigen Wochenenden. Ricardo reiste zum Heim-Grand-Prix nach Mexiko, und er kam nie mehr zurück: er verunglückte tödlich.
Jo, der sich den Trip in die Heimat nicht leisten konnte, war nun allein in Italien und ohne Plan, allerdings mit einem höchst einflussreichen Bekannten: Juan Manuel Fangio. Und der fünffache Weltmeister war sich nicht zu schade, eine Empfehlung für Ramirez zu schreiben, mit dem sich dieser bei Maserati vorstellen konnte. Und, no na, engagiert wurde.
Die nächsten Mentoren hatten so klingende Namen wie Dallara oder Lamborghini („Ich war dort der sechste Mitarbeiter“), aber er spürte, dass es dort keine Rennstrecken-Einsätze geben würde – und so tat Jo wieder einmal das Mutige statt dem einfach Möglichen. Er fuhr in seinem Fiat 500 nach England und suchte dort sein Glück im Motorsport.
Was auch deshalb verwegen war, weil er a) dort niemanden kannte und er b) seine Englisch-Kenntnisse bescheiden waren. „Also habe ich dort die Hörspiel-Seifenoper The Archers im Radio gehört, und mich auf diese Weise an die Sprache gewöhnt.“ Auch mit diesen Kenntnissen schrieb er Bewerbungen gefühlt an jede Bastelbude auf der Insel. Bald danach legte er an John Wyers Ford GT40 Hand an und er lernte Dan Gurney, praktischerweise ein großer Freund der mexikanischen Küche, kennen. Gemeinsam gingen sie für zwei Jahre in die USA, Dan – genialer Erfinder und großer Rennfahrer – hatte Erfolge und Jo verdiente genug Geld, um danach wieder nach England zurückzukehren und sich ein Haus zu kaufen. Mit Wyer und den Piloten Jackie Oliver und Pedro Rodriguez gewann er in Daytona 1971 im Porsche 917. Mit ihm selbst als Helden, denn Jo hatte gemeinsam mit seiner Crew das Getriebe während des Rennens in Rekordzeit gewechselt.
Es folgte eine wunderbare Zeit bei Tyrrell, dem damals besten Formel-1-Team der Welt. „Die Atmosphäre war grandios – so gut, dass Jackie Stewart enorme Angebote von Ferrari ablehnte. Wir waren alle Freunde, und ein trotz der großen Erfolge kleines Team.“ Doch, wieder einmal, zeigte es sich: Das Glück ist in diesem Sport immer nur bis zum nächsten Rennwochenende geborgt. Francois Cevert verunglückte in Watkins Glen tödlich, auf so grauenvolle Weise, das der entgegenkommende Augenzeuge Jody Scheckter sich Ramirez in den Weg warf: „Du brauchst die Unglückstelle jetzt nicht sehen.“
Bei all dem Schock und der Trauer war es aber eine wichtige Nachricht für Jo, dass alle, die den Crash erlebt hatte, versicherten, dass der von ihm verantwortete Tyrrell sicher kein technisches Gebrechen gehabt habe.



Und da war noch dieser Moment an diesem 6. Oktober 1973, als ihm Jackie Stewart mit dem Lenkrad seines eigenen Autos in der Hand in der Box fragte: „Jo, kann ich das behalten?“ Es war der Moment, in dem klar wurde, dass diese Legende des Sports nie wieder ein Rennen bestreiten würde.
Auch Jo verließ, im besten Einvernehmen mit Ken Tyrrell, das Team bald – Emerson Fittipaldi suchte mit viel Geld von der Regierung die besten Leute für seinen eigenen Rennstall. Es wurde ein Flop und für Jo der Beginn eine Odyssee durch die hinteren Reihen der Startaufstellung: Copersucar, Shadow, ATS, Theodore. Eine Zeit mit vielen Geschichten und wenig Glück, aber auch eine, in denen man seine Qualitäten trotzdem sah.
Und so holte ihn Ron Dennis genau vor der Saison 1984 als Teammanager zu McLaren, und dort blieb er 16 Jahre lang bis zur Pensionierung.
Er war dabei beim Duell Lauda vs. Prost und sah, wie Prost sich das Team immer mehr zu eigen machte. Er erlebte den Showdown zwischen „dem Professor“ und Ayrton Senna. „Am Anfang hatten sie eine richtig gute Beziehung. Erst 1989, als Senna im Qualifying immer dominanter wurde, wurden die Dinge komplizierter.“ Der junge Brasilianer arbeitete wie ein Besessener am Erfolg, verbrachte Stunden mit den Honda-Ingenieuren, während Alain, der auch gerne mal am Golfplatz war, den Ernst der Lage vielleicht zu spät erkannte.
Sennas Aura sei unvergleichlich gewesen, zugleich aber spricht Ramirez stets in höchsten Tönen auch von Prost. Der, der wirklich dabei war, hält nichts von der Gut-Böse-Zuordnung in diesem Konflikt, wie sie in manchen Dokumentationen üblich ist. „Ich habe so viel Respekt vor Prost. Ich denke eher, er war manchmal zu weich – was ihm dann auch als Teamchef am Erfolg gehindert hat.“ Ramirez aber blieb bis zu seiner Rente ganz nah dran an eben jenem Erfolg: Mit Mika Hakkinen holte er am Ende noch zwei WM-Titel und so liest sich die Bilanz des Mannes, der einst mit einem Dampfer zur Glücksuche nach Europa gekommen war, imposant.
Die Datenbanken notieren nüchtern: Jo Ramirez hat bei 479 Grand Prix im Fahrerlager gearbeitet, er war an 116 Siegen, zehn Fahrer-WM-Titeln beteiligt und wurde sieben Mal Konstrukteurs-Weltmeister. Er war bei acht Formel-1-Teams beschäftigt und Sportwagen-Champion 1971.
Sein größter Erfolg aber ist es wohl, zu denen zu gehören, die all diese Jahre im Scheinwerferlicht ohne Verbrennungen am Charakter überstanden haben.
Bei Rennen ist er ein willkommener Gast. Um dort in den klinisch sauberen VIP-Clubs wie ein Wesen aus einer anderen Welt zu erscheinen – als der, dabei war, als all das passierte, über das die heutigen (Selbst-)-Darsteller der Formel 1 nur lesen und hören können. Als Augenzeuge der aufregendsten Zeit des Grand-Prix-Sports.


Jo Ramirez in vollem Flug (oben links) und in Gröbming mit Ennstal-Classic-Veranstalter Michael Glöckner.